Das Gegenteil von Selfie.
Aus unserem Alltag sind Fotos kaum mehr wegzudenken und jeder trägt das Werkzeug dafür in seiner Hosentasche. Mit einer originalen Plattenkamera aus 1890 macht Wolfgang Beranek allerdings besondere Unikate wie zum Beginn der Fototechnik vor über 150 Jahren.
Wer ein Motiv gefunden hat, greift einfach zum Handy und in Bruchteilen von Sekunden entstehen ultrascharfe Fotos, die im Handumdrehen verteilt und präsentiert werden. Kaum vorstellbar, dass es noch keine 200 Jahre her ist, als für die Herstellung einer Fotografie sehr viel Zeit und handwerkliches Können notwendig war.
Während heute jede kleine Szene in Sekundenschnelle als visuelles Andenken festgehalten wird, war es im 19. Jahrhundert ein ganz besonderes Ereignis, sich fotografieren zu lassen: Die ersten Sonnenstrahlen erhellen den neugotischen Schlosshof und das Geklapper der vorbeifahrenden Pferdekutschen auf dem Kopfsteinpflaster unterbricht die Stille dieser Szenerie.
Eine bürgerliche Ehefrau und ihre drei adrett gekleideten Töchter sitzen mit geradem Rücken und eleganten Hochsteckfrisuren fast regungslos auf einer schmalen Holzbank, während der Vater hinter ihnen steht und mit Anzug, Sonntagshut und Spazierstock stolz posiert. Der Ausdruck ihrer Gesichter ist ernst und konzentriert. Einige Meter vor dieser statuenhaften Kulisse bietet sich allerdings ein ganz anderes Bild. Ein ebenfalls mit einem Anzug und schwarzem Hut bekleideter Mann agiert geschäftig mit einem großen, klobigen Holzkasten, der mit einer Art schwarzem Blasebalg verbunden ist. Plötzlich gestikuliert er heftig und ruft: „3, 2, 1 und jetzt bitte stillhalten!“
Die Kunst der Kollodium Nassplattenfotografie
Was ist aus diesen alten Apparaten geworden? Einer davon befindet sich beim Berufsfotograf Wolfgang Beranek in Ybbs an der Donau, der seit einiger Zeit dieses alte Handwerk wieder neu aufleben lässt und mit dem ich mich zu einem Interview treffe.
So sehen die Ergebnissse aus
In seinem Fotostudio kommt es mir fast vor, als wäre ich in einem anderen Zeitalter gelandet. Alte Schwarz-Weiß-Fotos hängen an der Wand und am Set vor der weißen Fotoleinwand richtet eine große Kamera aus Holz ihre Linse auf einen dort platzierten Deko-Weihnachtsmann. Es ist seine 24x30cm Plattenkamera, die er für die Produktion seiner im Nassplattenverfahren hergestellten Fotografien nutzt.
Das Kollodium-Nassplatten-Verfahren wurde um 1850 durch Zufall von Frederick Scott Archer, Gustave Le Gray und Robert Jefferson Bingham entdeckt. Sie entwickelten eine fotografische Platte, die durch ein Negativ-Verfahren eine Fotografie erzeugt. Es war das erste Mal, dass sich Menschen selbst auf einer Glas-, Aluminium- oder Steinplatte sehen konnten. Erst viel später entstanden Fotos auf Büttenpapier oder anderen Trägermaterialien. Die Kollodium Nassplatte wurde somit zum bedeutendsten fotografischen Aufnahmemedium des 19. Jahrhunderts.
Wolfgang Beranek lernte die Technik 2019 bei einem Treffen der Berufsfotografen auf der Schallaburg das erste Mal näher kennen und war sofort fasziniert. Mit seiner ersten alten Plattenkamera im Format 13x18cm legte er den Grundstein für seine ersten Versuche, welche anfangs nicht so recht gelingen wollten. Doch die Leidenschaft hatte ihn gepackt und er gab nicht auf, bis sich erste Erfolge einstellten.
Retro-Foto im Studio oder bei Schönwetter auch im Freien.
Für ein Nassplatten-Foto sind einige Vorbereitungen zu treffen. Nach der erfolgten Ausrichtung, dem perfekten Platz mit der richtigen Lichteinstrahlung und der Entfernung zeigt der Blick durch die Kamera das Motiv auf dem Kopf stehend und spiegelverkehrt. Das ist ungewohnt, stellt aber bei Porträts kein Problem dar. Beim Fotografieren von Städten oder Landschaften muss dieser Effekt allerdings bedacht werden.
»Wie die meisten guten Erfindungen,
wurde auch die Nassplattenfotografie durch Zufall erfunden.«
Wenn der Fotograf alles an der Kamera eingestellt hat, beginnt die chemische Vorbereitung der Platte. Auf einer sorgfältig geputzten Glas- oder Aluminiumplatte wird das zähflüssige Kollodium gleichmäßig aufgetragen und anschließend für ein paar Minuten in ein Silbernitratbad eingelegt. Die Kollodiumschicht dient als Trägermaterial, um die lichtempfindlichen Silbersalze auf der Platten- oberfläche zu binden. Das Silber „schwebt“ sozusagen in der Kollodiumschicht. Die so präparierte Platte wird aus dem Silberbad herausgenommen und noch feucht in einer lichtdichten Kassette in die Kamera gebracht.
Spiegelverkehrt und auf den Kopf gestellt sieht man das Motiv durch die Kamera.
Dann ist es soweit: Die Kappe wird von der Linse genommen und der Schuber geöffnet. Jetzt heißt es stillzuhalten – für mindestens 15 Sekunden. Das Licht dringt durch die Linse auf die Platte, danach wird der Schuber wieder zugemacht und die Linse mit der Kappe verschlossen. Im Anschluss geht es sofort ab in die Dunkelkammer, wo die Platte mit der Entwicklerflüssigkeit fixiert wird.
Für Aufnahmen im Freien hat Wolfgang Beranek seine „mobile Dunkelkammer“ in Form des Firmenbusses immer mit dabei. Im Licht spiegelt sich dann die Silberschicht auf der schwarzen Metallplatte und bringt ein leuchtendes Foto zum Vorschein – die Porträtierten können das Ergebnis somit gleich als „Sofortbild“ betrachten.
»Bei einem der ersten Versuche saß meine Frau 45 Sekunden unter einer Tageslichtlampe und durfte sich kein bisschen bewegen!«
Nach der Fotosession beginnt die aufwendige Nachbearbeitung. Um das Bild für die Ewigkeit haltbar zu machen, wird es versiegelt. Dieses Prozedere dauert etwa eine Stunde. Nachdem die restlichen Chemikalien entfernt sind, muss die Platte gut trocknen, bevor sie mit Klarlack oder Schellack versiegelt wird.
Jedes Bild ein Unikat
Die Nassplattenfotografie von Wolfgang Beranek erfreut sich steigender Beliebtheit. Menschen nehmen sich wieder die Zeit, um sich für Hochzeitsfotos oder Porträts auf Glas oder Aluminium ablichten zu lassen.
Das Team vom Verein PODKASTL beim Fotoshooting.
Was ist es, was die Menschen in unserer Wegwerfgesellschaft und Austauschbarkeit zwischen all den Hightech-Geräten mit ihren superschnellen und präzisen Funktionen an dieser alten Technik fasziniert? Es ist wohl genau diese Einfachheit eines Prinzips, die so beeindruckend ist. Ganz ohne Strom und aufwendige Programmierung wirkt es nur durch das Zusammenspiel von Licht, Schatten, Chemie und Zeit. Und das so präzise, dass einzigartige Bilder für die Ewigkeit entstehen. Denn eines ist klar, ein Nassplattenfoto wirkt in seiner Tiefe und seinem Ausdruck ganz anders, als heutige Digitalbilder. Man könnte vielleicht sogar sagen, sie zeigt die Menschen genauso wie sie sind und jedes Nassplattenbild ist gleichzeitig ein Unikat.